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Ein Bekenntnis der Liebe

Sie kamen aus geringer Höhe auf dem Boden auf und sogleich sprang Mokona beunruhigt in Shaolans Arme.

„War das zu fest? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Sorge. Der Junge hatte schon länger die Vermutung, dass die Landungen sehr von Mokonas Gemütszustand abhingen. Eilig ging sein Blick zu Kurogane, der Fye fest im Arm hielt.

„Ist nichts weiter passiert“, antwortete der Ninja. „Wo sind wir gelandet?“

Die schmale, dunkle Seitengasse wurde zu beiden Seiten von Hochhäusern eingerahmt, sodass kaum Licht in sie fiel. Dafür drang ein übler Gestank in ihre Nasen. Eine Mischung aus schon zu lange herumliegendem Müll und Abgasen.

Der ekelerregende Geruch war nicht der Grund, warum sich Kuroganes Magen umzudrehen begann.

„Wartet hier.“

Den ohnmächtigen, schwer atmenden Magier nach wie vor auf dem Arm tragend, begab er sich im Laufschritt zum Eingang der Gasse. Hinter ihnen war nur eine Sackgasse und von vorne ertönte der Krach einer stark befahrenen Straße. Tatsächlich kam er am anderen Ende an einer ohrenbetäubenden Hauptverkehrsstraße heraus. Dahinter erstreckten sich mehrere hässliche Hochhäuser. Grobe, gräuliche Betonzweckbauten, die bereits bessere Jahre gesehen hatten.

Vor allem hatte Kurogane sie schon einmal gesehen.

„Scheiße“, entfuhr es ihm und obwohl er Shaolan befohlen hatte, zurückzubleiben, tauchte der Junge samt Mokona neben ihm auf.

„Ist das …“, hauchte er fassungslos, „Infinity?“

Was war nun los, dass sie ständig in Welten landeten, die nichts außer furchtbaren Erinnerungen zu bieten hatten? Trotz der Abgase atmete Kurogane durch. Er musste seine Gedanken sortieren. Es gab medizinische Versorgung in Infinity und sie war nicht so schlecht. Allerdings gab es einen Unterschied zwischen der Versorgung, die man als Teilnehmer eines Schachturniers erhielt und der, die man als normaler Bürger erhielt. Des Öfteren hatte er während ihres quälend langen Aufenthalts in dieser grausamen Stadt etwas von Kliniken gehört, die von Organhändlern betrieben wurden und Ärzten, die einem ungefragt verbotene (sprich: schädliche) Substanzen spritzten.

Er schaute auf den schwerkranken Mann in seinen Armen.

Bei Fyes Glück würden sie an die Organhändler geraten.

Doch selbst wenn er die in den Boden stampfen würde, er könnte nicht beurteilen, ob man den Magier falsch behandeln würde.

Nein, keine Klinik.

Den Blick auf eines der exakt gleich aussehenden Hochhäuser vor ihnen gerichtet, überlegte Kurogane, was die beste Lösung war.

„Hier gibt es Apotheken, richtig?“

Als er so plötzlich angesprochen wurde, schreckte Shaolan zusammen. „Ja. Die gibt es hier.“

„Gut. Wir suchen uns schnell eine Unterkunft und du besorgst ihm etwas gegen das Fieber.“

An der Art, wie er dies sagte, konnte man spüren, dass er sich in dieser kurzen Zeit erstaunlich viele Gedanken darüber gemacht hatte. Daher stimmte Shaolan ihm stumm und ohne jeglichen Zweifel zu.

 

Sie waren immer noch knapp bei Kasse und ihr Geld reichte dieses Mal nur für eine Zweizimmerwohnung. Sie kannten es noch, dass manche der Wohnungen wochenweise und voll ausgestattet vermietet wurden und in dieser Stadt wunderten sie sich auch nicht, dass der Hausverwalter nicht einmal wegen des ohnmächtigen Mannes, den sie dabei hatten, nachfragte. Nach der Vertragsunterzeichnung eilten sie zu ihrer Wohnung im 18. Stock (Shaolan hätte schwören können, im Aufzug Kuroganes schnell schlagendes Herz gehört zu haben) und der Ninja rauschte durch den winzigen Wohnraum in das dahinter liegende Schlafzimmer. Immerhin waren diese Apartments, so baufällig die Gebäude auch waren, relativ sauber.

Ohne dass er etwas sagen musste, erneuerte Shaolan die kalten Wickel um Fyes Gliedmaße.

„Er glüht immer noch“, stellte Kurogane fahrig fest.

„Wir müssen das Fieber senken“, sagte Shaolan und biss sich unbewusst auf die Unterlippe. Er hatte dem Älteren nichts davon gesagt, dass die von dieser Krankheit betroffenen alle innerhalb von drei Tagen gestorben waren. Er wusste nicht, ob es einen Unterschied machte, dass Fye nun nicht mehr der Strahlung ausgesetzt war.

„Ich muss dir nicht sagen, dass du hier vorsichtig sein musst.“ Kurogane reichte ihm den Geldbeutel. Shaolan hatte mehr Ahnung von Medizin und solchem Kram, daher war es klüger, ihn zu schicken, auch wenn er angesichts der Gefahren dieser Welt lieber selber gehen wollte. „Nimm das Wollknäuel mit.“

„Ich werde mich beeilen.“

Shaolan umklammerte Mokona und rannte wie der Wind los. Kaum war er aus dem Raum, zog Kurogane sämtliche Vorhänge der großen Fenster zu. Es war noch Tag und selbst vom Bett aus konnte man mit Leichtigkeit erkennen, in welcher Welt sie sich befanden.

Er setzte sich ans Bett und strich mit einer dezent zittrigen Hand über Fyes Kopf.

Solange es ihm so schlecht ging, musste er nicht wissen, wo sie gelandet waren.

 

Shaolan war bewusst, dass Kurogane nur äußerlich die Ruhe behielt. In seinen Augen konnte man sehen, wie sehr es in ihm brodelte, wie sehr ihn die Situation an seine Grenzen brachte. Es war immer so, wenn etwas mit Fye war. Wenn Fye krank oder verletzt war, konnte Shaolan hören, wie etwas in Kurogane zerbrach.

Es war Angst. Die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren.

Er durfte sich keine „Was, wenn“-Fragen stellen. Wenn einem der beiden oder Mokona etwas zustoßen würde, dann wüsste er nicht mehr, wie er weitermachen sollte. Dann wäre es das wahrscheinlich gewesen. Er wollte niemandem mehr wehtun und hörte doch nicht auf damit.

„Da! Shaolan! Das rote Kreuz! Das heißt doch Apotheke, oder?“

Mokonas Ausruf riss ihn aus seinen Gedanken, während er wie ein Irrer die Straße entlang hetzte. An keinem anderen Ort musste man so höllisch aufpassen, nicht in jemanden reinzudonnern. Es konnte passieren, dass der Angerempelte einfach eine Waffe zog und schoss. Das hatte Shaolan damals mehrmals in den Nachrichten gehört. Gerade als er abbremsen wollte, kam aus einem anderen Geschäft ein Mann hinaus und Shaolan krachte mit voller Wucht in ihn hinein.

Mokona jaulte und erschrocken stolperte er rückwärts.

„Es tut mir leid! Verzeihen Sie bitte vielmals!“, presste er atemlos hervor und verbeugte sich dabei so tief er konnte. Er hatte keine Zeit, sich einen Kampf zu liefern und erst recht keine Zeit, angeschossen zu werden. Fye brauchte die Medizin und das am besten sofort.

„Huh? Das … bist du das etwa?“

Shaolans Kopf schnellte nach oben. Vor ihm stand ein hellhaariger, großgewachsener Mann mit einem Stirnband und blinzelte zunächst ihn, dann Mokona verdattert an. Die Anwesenheit der weißen Kreatur schien ihm Gewissheit zu geben. „Ihr seid wieder hier? Hat alles geklappt?“

„Eagle …“ war alles, was Shaolan wie vom Donner gerührt herausbrachte. „Ich … ja, ähm … ich … tut mir leid … ich muss …“

„Langsam, langsam, du bist ja völlig durch den Wind. Ich gehe also recht in der Annahme, dass etwas nicht stimmt, ja?“

„Fye ist ganz doll krank!“, warf Mokona hibbelig ein. „Er braucht ganz dringend Medizin!“

„Fye?“ Eagle hob eine Augenbraue, drehte sich zu dem hinter ihm liegenden Eingang zur Apotheke um und dann wieder skeptisch Shaolan zu. „Ihr seid unterwegs, um für ihn Arznei zu besorgen?“

Der Junge nickte hastig. „Er hat hohes Fieber.“

Der hellhaarige Mann tippte erwägend mit zwei Fingern gegen sein Kinn. „Das klingt sehr ernst. Das Zeug aus der Apotheke könnte nicht stark genug sein.“ Er sah Shaolans Schultern schlagartig herabsinken und lächelte ermutigend. „Ich werde meinen Leibarzt holen.“

 

„Was zur Hölle?!“ Entgeistert starrte Kurogane auf Eagle, der im Türrahmen stand und lächelnd winkte, während ein anderer, ihm unbekannter Mann, der eine Tasche bei sich hatte, auf Fye zusteuerte.

„Ich bin ihm zufällig begegnet“, erklärte Shaolan.

„Er ist in mich hineingedonnert.“

„Er war so nett, seinen Leibarzt zu rufen“, sagte der Junge weiter, da er merkte, dass dies den Ninja ganz und gar nicht besänftigte. Er konnte ihn verstehen. Eagle und seine Männer waren damals nicht wirklich aufrichtig gewesen, aber alles in allem hatten sie ihnen geholfen. „Ich denke, es ist besser, wenn ein Arzt sich ihn ansieht.“

„Dann behalte du den komischen Kauz neben dir im Auge und ich den hier.“

Der Doktor, ein schüchtern wirkender Mann mittleren Alters, wich dem bohrenden Blick des Schwarzhaarigen aus. Er ahnte offenbar, was ihm blühen würde, wenn er etwas Unvorsichtiges tat.

„Ich will nur hoffen, mein Arzt kann da überhaupt etwas machen“, wandte Eagle zweifelnd ein. „Ich wusste bisher nicht, dass Vampire überhaupt krank werden können und keine Ahnung, ob ein Menschenarzt bei ihm etwas ausrichten kann.“ Er sah die entsetzten Mienen der beiden Reisenden und deutete sie falsch. „Darf man das nicht laut sagen? Oder stört es euch, dass ich davon weiß? Ich meine, ihr wisst, dass wir euch beobachtet haben und das, was wir gesehen haben, lässt sich nur so deuten. Es war ein wahrhaft … interessanter Anblick.“ Er biss sich auf die Zunge, als Kuroganes zorniger Blick ihn traf.

„Nein, nein“, kam es von Mokona, die als Einzige die Ruhe bewahrt hatte, „Fye ist doch gar kein Vampir mehr.“

„Huh? War das ein temporärer Zustand?“

„War es! Thema beendet!“, wetterte Kurogane wutentbrannt und ließ den armen Arzt, der beim Wort „Vampir“ ganz blass geworden war, noch blasser werden. Die Erinnerung daran, wie schwierig es gewesen war, den Idioten dazu zu bringen, sein Blut zu trinken, war schon unwillkommen genug, da brauchte er dazu jetzt nicht noch Kommentare von einem dahergelaufenen Voyeur. Und was noch wichtiger war: Der Idiot brauchte keine Kommentare dazu zu hören.

„Oje, da habe ich einen Nerv getroffen, was?“ Eagle zuckte ungerührt mit den Schultern. „Ich traue mich ja kaum zu fragen, wo die bezaubernde Sakura abgeblieben ist.“

„Ihr geht es gut. Sie reist nicht mehr mit uns“, entgegnete Shaolan automatisch und fast wie eine Maschine.

„Ihr seid wirklich wunderlich. Die Geschichte würde ich gerne noch zu Ende hören, aber ich verstehe natürlich zu gut, dass ihr gerade andere Sorgen habt.“

Kurogane grummelte laut.

 

Shaolan riss die Augen wieder auf, als das Knurren seines eigenen Magens ihn geweckt hatte. Er hatte vermutlich nur für wenige Sekunden geschlafen, doch trotzdem schaute er schuldbewusst über das Bett zu Kurogane herüber. Jeder von ihnen saß an einer Seite des Magiers, während Mokona neben seinem Kopf hockte und mit einer Pfote sanft über seine Haare streichelte. Mokona gab kein besseres Bild als Shaolan ab, so wie ihre Augen immer wieder zufielen und ihr ganzer kleiner Körper erschöpft nach vorn kippte. Inzwischen musste es Nacht geworden sein. Von draußen drang nur noch schwach ein künstliches Licht durch die verhüllten Fenster.

„Leg dich auf die Couch im Wohnzimmer und schlaf“, sagte Kurogane leise und dennoch mit Nachdruck. Er stöhnte, als Shaolan den Kopf schüttelte.

„Erst, wenn es ihm deutlich besser geht.“

Eagles Leibarzt hatte (unter den wachsamen, drohenden Augen Kuroganes) Fye ein Mittel gegen das Fieber gespritzt und ihnen zusätzlich eine weitere Medizin da gelassen, die er alle vier Stunden schlucken musste. Da Fye jedoch nach wie vor nicht bei Bewusstsein war, mussten sie sie ihm einträufeln und seinen Schluckreflex auslösen. Für den Fall, dass sich sein Zustand verschlimmern sollte, hatte Eagle ihnen ein Telefon überlassen, mit dem sie den Arzt im Notfall anrufen konnten. Telefone kannten sie aus mehr als genügend anderen Welten. Kurogane hasste die Dinger, aber im Moment war er nicht unglücklich darüber, eins zu haben. Dieser Eagle und seine Truppe waren eine genauso undurchsichtige Bande wie so viele andere, denen sie bislang begegnet waren. Doch Yuko und vor allem 'Sakura' hatten ihnen damals vertraut. Also würde er wieder einmal in den sauren Apfel beißen und auf die Hilfe anderer bauen.

Gott, wie er das hasste.

„Seine Atmung ist etwas ruhiger geworden“, sagte Shaolan in die Stille des mehr oder weniger finsteren Raums hinein. Mokona war in der Zwischenzeit trotz ihrer Bemühungen eingeschlafen.

„Ja. Das Fieber geht runter.“ Er hörte den Jungen erleichtert ausatmen. „Spuck schon aus, was dir auf dem Herzen liegt.“

„ …?“

Kurogane konnte zwar die Miene des Jüngeren nicht deutlich sehen, doch er wusste, was für ein verblüfftes Gesicht er gerade machte. Wenn den Bengel etwas bedrückte, hatte seine Stimme immer diese gewisse Nuance, als würde der Kleine zwar versuchen, tapfer zu klingen, doch seine Stimme trotzdem um Hilfe rufen.

„Vielleicht ...“, fing Shaolan an und klang nun in der Tat bedrückter, „vielleicht war in einem der anderen Länder eine Feder aufgetaucht oder verschwunden und hat damit die Strahlung der Sonne gefährlicher gema-“

Der Ninja stöhnte in seine Ausführung hinein.

„Wir können es nicht ausschließen!“, wehrte der Brünette sich, erschrak bei seiner Lautstärke und wurde umgehend wieder leiser. „Es wäre eine mögliche Erklärung.“

„Das mag sein. Und? Was ändert das?“

„Nichts, aber-“

„Nichts. Genau. Was in aller Welt wolltest du da für ein Aber dranhängen?“

Stille trat zwischen sie und Kurogane bekam Magenschmerzen, als diese von einem unterdrückten Schluchzen durchbrochen wurde. War er zu hart mit ihm ins Gericht gegangen? War der Kleine inzwischen so fertig, dass er selbst eine gemäßigte Schelte nicht mehr vertrug?

„Aber“, wimmerte Shaolan und gab sich hörbar Mühe, nicht zu wimmern, „aber es tut mir schrecklich leid, dass das mit Fye passiert ist.“

Ein Stich in sein Herz gesellte sich zu den Magenschmerzen hinzu. Verdammt! Ausgerechnet jetzt war der Magier nicht da, um Trost zu spenden! Das war seine Abteilung!

„Es ist nicht deine Schuld. Wenn du das nicht bald kapierst, setzt es gewaltige Hiebe.“

„Ich weiß.“ Er konnte ausmachen, wie Shaolan sich die Tränen mit einem Arm wegwischte. „Ich wünschte nur, alles wäre anders.“

Kurogane seufzte. „Die Dinge sind, wie sie sind.“ Mir tut es leid, dass du so leidest, war der Gedanke, den er nicht aussprach. Der Bengel war niemand, der Mitleid wollte. Wahrscheinlich würde er sich dadurch nur noch schlechter fühlen. „Ich sage es ein letztes Mal, also hör gut zu“, fuhr er stattdessen fort, „nichts hiervon ist deine Schuld. Keiner von uns kann wissen, wie die Dinge gelaufen wären, wenn die Zeit nicht zurückgedreht worden wäre und wir alle unserer eigenen Wege gegangen wären. Vielleicht hätte jeden von uns da ein schlimmeres Schicksal erwartet. Ist auch egal. Davon abgesehen, dass die Kinder noch nicht wieder da sind und ich ihnen noch keine für ihr Verhalten verpassen konnte, habe ich kein schlechtes Leben. Und der da“, er deutete mit dem Kopf in Richtung Fyes, „würde es selbst in Nihon schaffen, sich irgendwie ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Da bin ich nicht gerade glücklich drüber, aber es gibt Dinge, die man ändern kann und es gibt Dinge, die man nicht ändern kann. Wenn du deine ganze Kraft an Letztere verschwendest, wirst du im Leben nie etwas erreichen.“

Shaolan schluckte seine restlichen Tränen hinunter. „Ich weiß nicht, ob ich mich jemals weniger schuldig fühlen werde.“

„Du bist noch jung. Für dich habe ich noch Hoffnung.“

 

Langsam und schwerfällig öffnete Fye die Augen. Er blickte auf eine Zimmerdecke, die nicht nach der Welt aussah, an die er sich zuletzt erinnern konnte. Der Raum war allerdings auch nicht wirklich hell. Seine Augen wanderten zur Seite und erblickten die zugezogenen Vorhänge, durch die gerade so viel Licht in das Zimmer fiel, dass man etwas darin erkennen konnte.

„Fye-san!!“

Etwas – nein, jemand; nein, Shaolan … (Hilfe, sein Hirn funktionierte aber langsam) – schmiss sich ihm um den Hals.

„Du bist aufgewacht! Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Tut dir etwas weh? Brauchst du irgendetwas? Kannst du sprechen? Der Arzt sagte, du sollst viel trinken, wenn du wieder bei Bewusstsein bist!“ Shaolan rückte von ihm weg und musterte ihn besorgt.

Fye hatte ein Déjá-vu und schmunzelte müde. Was war hier überhaupt los? Moment, der Arzt …? War er krank? Wieso erinnerte er sich nicht einmal daran, krank zu sein … oh oh. Die Erinnerung setzte wieder ein und ließ ihn leicht panisch werden. Ihm war schrecklich schwindelig geworden und Ashura hatte angeboten, ihn ins Gasthaus zu bringen und …. Fyes Blick wanderte durch den Raum. Das war nicht das gleiche Zimmer. Das war nicht einmal die gleiche Welt.

„Was ...“ der Blondschopf hustete und räusperte sich. Seine Stimme war ganz rau, so als hätte er sie lange nicht benutzt. „Was ist passiert?“

„Die Sonne in Helios war gefährlich für Menschen mit hellen Haaren“, erläuterte Shaolan gefasst. „Du hast Fieber bekommen und bist ohnmächtig geworden. Wir sind weitergereist, um Medizin zu besorgen.“ Als hätte er sich selbst ein Stichwort gegeben, ging sein Blick zu der Uhr auf dem Nachttisch und ohne weitere Erklärung schraubte der Junge eine Flasche auf und kippte den Inhalt in einen kleinen Messbecher. „Kannst du das hier trinken?“

„Die Sonne also … deswegen war es da so heiß“, überlegte Fye laut. „Und meine Haare, sagst du? Das kann doch wohl mal wieder nicht wahr sein. Wieso hat man uns das denn nicht direkt gesagt?“ Er versuchte, sich aufzusetzen und scheiterte. „Herrje, ich habe überhaupt keine Kraft.“

„Das muss vom Fieber sein, auch wenn deine Temperatur jetzt fast wieder normal ist. Und die Einheimischen wussten nichts von der Gefahr.“ Shaolan hob vorsichtig den Kopf des Älteren an und gab ihm die Medizin zu trinken.

Der Magier verzog unverzüglich das Gesicht. „Buargh. Das erklärt den widerlichen Geschmack in meinem Mund.“

„Tut mir leid. Dann schmeckt es also wirklich so, wie es riecht. Der Arzt meinte, du musst es nur nehmen, bis das Fieber endgültig weg ist.“

„Wo sind Kuro-sama und Mokona?“, fragte Fye und wurde dabei spürbar nervöser. Er wusste nicht, was genau geschehen war. Es bestand die Möglichkeit, dass Ashura ihnen doch über den Weg gelaufen war.

„Sie besorgen ein paar Lebensmittel.“ Nachdem Fyes Zustand im Laufe der Nacht und des darauffolgenden Tages besser geworden war, hatte Kurogane am dritten Tag in Infinity genügend Ruhe, um selbst Erledigungen zu machen. Shaolan hatte natürlich gehen wollen, aber der Ninja hatte ihm dies untersagt:

Du bist vollkommen übermüdet und hungrig. Wir können es weder brauchen, dass du in den Straßen zusammenklappst, noch dass du hier in irgendwelche verdammten Verbrecher rennst.“ Die Straßen von Infinity waren tagsüber ein wenig sicherer als nachts (auf gar keinen Fall durfte man hier nachts vor die Tür gehen), doch wenn es schlecht lief, konnte man auch am Tag in Schwierigkeiten geraten.

„Ah, gut ...“ Fye beobachtete, wie Shaolan geschwind den Raum verließ und gleichermaßen geschwind mit einem vollen Glas Wasser wieder hereinkam. Erneut hob er mit einem Arm den Kopf des Anderen und flößte ihm behutsam etwas von der Flüssigkeit ein. Während er diese in kleinen Schlücken trank (urgh, fühlte sich sein Hals rau an), wanderte sein Blick erneut durch den Raum. Es war ein bisschen seltsam, dass Kurogane Besorgungen machte. Normalerweise kümmerte Fye sich im Alleingang darum, manchmal übernahm Shaolan dies und manchmal ließ sich der mürrische Ninja breitschlagen, Fye zu begleiten. Stimmte etwas nicht? Es war merkwürdig, dass Kurogane nicht bei ihm blieb, wenn er krank war.

Fye verschluckte sich am Wasser, als ihm ein beängstigender Gedanke kam.

War Kurogane Ashura begegnet?

„Ist alles in Ordnung?“ Shaolan stellte das Glas weg.

„Ja.“ Der Magier winkte mit einer schwachen Hand ab und lächelte. „Wir sind also ganz abrupt aus der vorigen Welt abgereist?“

Der Junge nickte - und senkte betroffen seine Stimme. „Du konntest dich nicht von dem dortigen Ashura verabschieden.“

Erschrocken die Luft einziehend, starrte Fye durch ihn hindurch. Sie wussten es. Sie wussten, dass er sie angelogen hatte. Sie wussten, was er ihnen verheimlicht hatte. Kein Wunder, dass Kurogane nicht hier war. Er musste stinkwütend sein. Er hatte es ja schließlich angekündigt. Die nächste Heimlichtuerei würde er ihm nicht mehr verzeihen. Dann … dann war es das jetzt gewesen? Hatte er ihn tatsächlich ein für alle Mal aufgegeben?

Fye fühlte sein eigenes Herz brechen.

„Shaolan-kun … ich wollte nicht … ich wollte es euch sagen.“ Erbärmlich. Er war einfach nur erbärmlich. Warum sollten sie ihm das jetzt noch glauben?

Shaolan bemerkte seine entsetzte Mimik und schüttelte den Kopf. „Das ist wahr, Fye-san. Du hättest es uns sagen sollen. Aber Kurogane-san hat mir erklärt, wie schwierig es für dich ist.“

… was?

Große, blaue Augen starrten ihn nun gänzlich verwirrt an. „Kuro-sama hat … was?“

„Ich hatte ihn gefragt, ob er wüsste, warum du uns manchmal immer noch nicht die Wahrheit sagst und er hat mir erklärt, dass du dir bereits große Mühe gibst, dies zu tun, es dir aber einfach sehr schwerfällt.“ Shaolan unterschlug den genauen Wortlaut Kuroganes, weil er vermutete, dass es ihm nicht recht wäre, wenn er dies Fye sagen würde.

Du kannst nicht erwarten, dass jemand so schnell eine Gewohnheit ablegt, die zu einem Teil von ihm geworden ist. Er hat nicht damit angefangen, als er uns begegnete. Er musste schon Jahre vorher sich selbst belügen. Man hat etwas von ihm verlangt, was vollkommen wider seiner Natur ist. Er hat sich diese ganzen Schutzmechanismen zugelegt, um überhaupt überleben zu können. Der Mist ist, dass er sie nur sehr langsam wieder los wird. Vielleicht wird er sie auch nicht mehr alle los. Er versucht, das Richtige zu tun und hat gleichzeitig Angst, etwas falsch zu machen, weswegen er andauernd mit sich selbst Konflikte austrägt, die gar nicht sein müssen. Ich kann ihm das nicht durchgehen lassen, aber ich kann ihm auch keinen Vorwurf deswegen machen. Ich kann nur geduldig sein und ihn hin und wieder in die richtige Richtung schubsen.“

„Ich kann dich da verstehen, denke ich“, ergänzte Shaolan. „Aber du weißt, dass es mir lieber wäre, wenn ich ebenso immer wüsste, was in dir vorgeht.“

Gerührt hob Fye eine Hand bis zu einer Wange des Jungen und strich darüber. „Tut mir leid.“

Der Junge legte eine Hand auf die des Älteren. „Kurogane-san hat Recht. Sich immer weiter zu entschuldigen, macht es wirklich nicht besser. Kannst du mir stattdessen versprechen, dir noch mehr Mühe zu geben? Dann will ich mich auch mehr anstrengen.“

Einen langen Augenblick sah der Blonde ihn stillschweigend an. Was für eine Niete von Vorbild er war. Er spielte sich als sein Elternteil auf und war in Wahrheit um Längen unreifer als er. Das musste sich ändern. Er wollte sein Elternteil sein. Auch wenn er sich immer noch nicht sicher war, ob wegen seines Fehlers nicht sozusagen eine Scheidung ins Haus stand.

„Auf jeden Fall, Shaolan-kun. Auf jeden Fall.“

 

„Er war zwischendurch wach“, begrüßte Shaolan das heimkehrende Duo flüsternd im Wohnzimmer und erregte damit Kuroganes Aufmerksamkeit.

„Wie geht es ihm?“

„Das Fieber ist weg. Er fühlt sich verständlicherweise recht kraftlos, aber ansonsten gut. Er ist noch einmal eingeschlafen, aber er wacht bestimmt gleich wieder auf.“

„Gut. Dann kann ich ihn ja verprügeln.“

Empört hüpfte Mokona auf seinem Kopf auf und ab. „Das machst du nicht, Papa! Du musst lieb zu Mama sein!“

„Ruhe auf den billigen Plätzen.“ Er schnappte sich das Wollknäuel und setzte es auf der winzigen Arbeitsfläche der Kochnische ab. „Macht euch was zu essen. Ich sehe zuerst nach ihm.“

Kurogane übergab Shaolan die Tasche mit den Einkäufen und ging in das angrenzende Zimmer. Die Sonne ging unter und ein rötliches Licht fiel durch die Vorhänge.

Bedächtig näherte er sich dem Bett, in dem Fye nach wie vor schlief. Jedoch war sein Gesichtsausdruck nun dabei ein anderer als vorher. Während er unter dem Fieber gelitten hatte, war seine Miene stets ganz schmerzverzerrt gewesen. Jetzt lag er vollkommen ruhig und entspannt da. Kurogane setzte sich an seine Seite und schob eine blonde Haarsträhne aus seinem Gesicht.

Zwei blaue Augen öffneten sich langsam und der Ninja zog seine Hand zurück.

Fye blinzelte ein paar Mal, ehe er endgültig wach war – und den Anderen erblickte. Für das, was wie eine halbe Ewigkeit schien, aber sicherlich keine war, sahen sie sich einfach schweigend an.

„Hey“, sagte der Magier schließlich.

„Hey.“

„Wie sauer bist du?“

„Rate.“

„Sehr?“

„Das trifft es nicht mal annähernd.“

Fye nickte schwach. „Ich verstehe.“

„Ach ja? Tust du das?“

Erstaunt über diesen Einwand versuchte der Blondschopf die Mimik des Dunkelhaarigen zu lesen. Doch Kurogane zog die gleiche sauertöpfische Miene, die er in solchen Situationen immer zog.

„Bevor wir irgendetwas Weiteres besprechen“, fuhr Kurogane ruhig fort, „verrate mir eins: Hast du gemerkt, dass du krank warst und nichts gesagt, weil du diesen Kerl treffen wolltest?“

Der Magier erschrak bei dieser Frage. „Nein. Nein, ich habe erst gemerkt, dass etwas nicht stimmt, kurz bevor ich das Bewusstsein verloren habe. Das ist die Wahrheit! Wirklich!“ Er versuchte mit aller Gewalt, sich aufzusetzen, doch kam nicht sehr weit. Kurogane drückte ihn behutsam wieder auf das Bett zurück.

„Langsam, du Idiot. Du musst erst einmal wieder zu Kräften kommen. Ich glaube dir ja. Ich wollte nur, dass du meine Annahme bestätigst.“

Nun guckte Fye ihn mit so großen Augen an, dass er ächzen musste.

„Verstehst du, warum ich sauer bin?“

„Äh …“ Schiere Planlosigkeit stand dem Magier ins Gesicht geschrieben. „Weil … weil ich gelogen habe … oder nicht?“

„Warum hast du gelogen?“ Kuroganes Stimme blieb die gesamte Zeit so ruhig, dass es ihm fast unheimlich war. Es war ein bisschen so, als würde er mit einem Kind reden, das begreifen sollte, was es falsch gemacht hatte.

„Weil ich dachte, du würdest es nicht gut finden, wenn ich mich mit jemandem treffe, der die gleiche Seele wie König Ashura hat.“

„Okay, du bist also doch in der Lage mitzudenken.“

„Hey!“ Das wurde jetzt langsam beleidigend. „Was soll das denn-“ Er stockte, als der Ninja mit einer Hand andeutete, dass er noch nicht fertig war.

„Wo war ich während deiner Diskussion? Wann hast du dir tatsächlich meine Meinung dazu angehört?“

Fye runzelte die Stirn, halb aus Verärgerung, halb aus Überforderung. „Was meinst du? Ich weiß doch, wie du darüber denkst-“

Die Hand signalisierte ihm erneut innezuhalten.

„Du hast wieder einmal alles mit dir selbst ausdiskutiert. Du hast angenommen zu wissen, wie ich reagieren würde, aber tatsächlich gefragt hast du mich nicht. Du wolltest einen Konflikt vermeiden, den es von vorneherein nur in deinem Kopf gegeben hat. Natürlich bin ich nicht begeistert, wenn du in so einen Typen reinrennst, aber ich frage mich, ob du überhaupt verstehst, warum ich nicht begeistert wäre.“

„Pah!“, machte Fye entrüstet. Selbstverständlich verstand er den Grund dafür! Für wie dumm hielt er ihn eigentlich? Er hatte die gesamte Diskussion in seinem Kopf geführt, das entsprach der Wahrheit, ja, aber doch auf einer völlig realistischen Grundlage! Er verstand, warum Kurogane so dachte! Fye öffnete bereits den Mund, um ihm die Antwort um die Ohren zu hauen. Der Grund war … der Grund war … … … oh.

Der Schwarzhaarige war dazu übergegangen, seine Arme vor der Brust zu verschränken und sich selbstzufrieden zurückzulehnen. „Du wolltest etwas sagen? Bitte, ich bin ganz Ohr.“

Fyes Entrüstung und Selbstsicherheit fielen schlagartig in sich zusammen. „Du bist herzlos, Kuro-rin. Mich so zu traktieren, wo ich von der Krankheit doch noch so geschwächt bin …“

„Tsk!“ Der Ninja lachte selbstgefällig. „Jetzt packen wir die billigen Ausreden aus, wie? Im Ernst, du Trottel,“ er löste die Verschränkung seiner Arme auf und beugte sich mit ernster Miene zu ihm hinunter. „Ich wäre nicht begeistert, weil ich nicht will, dass du verletzt wirst. Und die Erinnerung an deinen König tut genau das. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du in der Nacht versucht hast, deine Tränen zurückzuhalten? Ich halte dich nicht für zerbrechlich. Aber ich weiß, wie sanftmütig du bist – und wie schnell dir deswegen Leid zugefügt werden kann.“

Durch und durch verdattert starrte der Magier seinen Geliebten nach diesen eindringlichen Worten an. „Tut mir leid“, hauchte er nach einer Weile mit brüchiger Stimme und presste beschämt die Lippen zusammen. Er wusste, dass Kurogane die ewigen Entschuldigungen nicht mehr hören wollte. „Ich hätte dich nicht aus der Diskussion ausschließen dürfen.“

„Die Erkenntnis hat einen furchtbar langen Anlauf gebraucht.“

„Oh Gott, das ist schrecklich“, sagte Fye entgeistert und verwirrte damit nun den Anderen.

„Was?“

„Du bist vielleicht wirklich klüger als ich. Natürlich nur ein klitzeklein bisschen, aber dennoch ist das wirklich, wirklich schlimm, Kuro-tan.“

„WAS ZUR-?!“ Der Dunkelhaarige schnaufte durch. „Immerhin hab ich jetzt Gewissheit, dass es dir wahrhaftig besser geht.“

Der Blondschopf schmunzelte ein wenig und wurde gleich darauf wieder nachdenklich. „Es muss sehr schwer sein, es mit mir auszuhalten, oder? … Hältst du es noch mit mir aus?“

Kuroganes Laune machte einen heftigen Sprung in den Keller. „Solche schwachsinnigen Fragen können erstens nur von dir kommen und werden zweitens von mir grundsätzlich ignoriert.“ Er schaute in das blasse, verunsicherte Gesicht des Magiers und ächzte von neuem. „Es ist nicht gerade leicht, es mit dir auszuhalten. Aber hast du mich auch nur ein einziges Mal vor einer Aufgabe zurückschrecken sehen?“ Bevor Fye darauf reagieren konnte, schloss Kurogane die Distanz zwischen ihnen und küsste ihn erstaunlich zärtlich auf den Mund.

Der Gedanke traf Fye wie ein elektrischer Schlag. Kurogane liebte ihn tatsächlich so sehr, dass ihn das all seine Unarten und Fehler ertragen ließ. Er liebte ihn so sehr, dass er ihn nicht aufgab.

Der Schwarzhaarige wollte von ihm ablassen, als zwei schlanke Hände sich um sein Gesicht legten. Fragend sah er in die ergriffenen blauen Augen.

„Ich will für immer an deiner Seite sein“, sprudelte es aus Fye heraus, ohne dass er über diesen Satz nachgedacht hatte.

Nach einer kurzen Verwirrung formte sich ein deutliches Lächeln auf dem Gesicht des größeren Mannes. „Klingt gut.“

Seine lapidare Antwort brachte den Magier zum Lachen. „Ah, so viel Romantik halte ich ja kaum aus, Kuro-sama! Mir wird ja wieder ganz heiß!“

„Keine Witze darüber, sonst gibt's Hiebe.“ Kurogane pochte mit einer Faust sacht auf seine Stirn.

Immer noch lachend griff Fye mit einer Hand nach der „angreifenden“ Faust und legte seine Finger in die des Anderen. „Es beunruhigt mich aber doch ein wenig, dass ich auf dich abfärbe, Kuro-pon.“

„Häh? Wo, wie und wann willst du auf mich abgefärbt haben?“

Der Blick des Blonden wurde etwas ernster. „Du willst vor mir verbergen, wo wir sind.“

Für den Bruchteil einer Sekunde entgleiste Kuroganes Miene und Fye sprach sogleich weiter:

„Dass am helllichten Tag alle Vorhänge zugezogen sind, ist schon arg seltsam. Aber dass Shaolan mit keinem Wort etwas über die Welt, in der wir gelandet sind, erwähnt, ist am allerseltsamsten. Davon abgesehen erkenne ich selbst bei wenig Licht diese hässliche Bruchbude wieder. Wir sind in Infinity.“

Der Ninja zuckte mit den Schultern. „In Tokyo habt ihr alle angefangen zu heulen. Das brauchte ich kein zweites Mal.“

„Jajajajaja.“ Kopfschüttelnd führte Fye die Hand, die er hielt, zu sich und gab ihr einen Kuss auf die Innenfläche. „In dieser Sache verstehe ich dich wirklich, Kuro-sama, und es ist lieb gemeint, aber das musst du nicht tun. Auch wenn ich nicht hier bin, denke ich an das, was damals hier geschehen ist. Das lässt sich leider nicht ändern. Hätte 'Sakura'-chan nicht getan, was sie getan hätte, wäre es noch viel schlimmer gekommen und so versuche ich einfach, froh zu sein, dass es nicht so gekommen ist.“ Er dachte an den Albtraum zurück, den er vor einer ganzen Weile dank der natürlichen Magie in Matrisis gehabt hatte und schluckte. Es brachte nichts, darüber nachzugrübeln.

„Ich hoffe sehr, dass du ihr irgendwann dafür persönlich danken kannst.“

„Ja, das hoffe ich auch.“ Fye strich mit seiner anderen Hand über die Wange des Anderen. „Danke, dass du mich auch damals schon nicht aufgegeben hast.“

„Ich war ja auch schon damals klüger als du.“

„Hey!“

Kurogane lachte. „Wobei der Typ mit dem Stirnband, dem wir den wahrscheinlich einzigen brauchbaren Arzt in diesem Drecksloch zu verdanken haben, meinte, es wären erst vier Monate vergangen, seit wir hier waren. Dieser Fluss-der-Zeit - oder wie das heißt – Scheiß nervt tierisch.“

„Du malst mit Worten, Kuro-pii.“ Fye lachte abermals und stutzte daraufhin. „Riechst du das auch?“

„Riecht irgendwie verbrannt.“

„Ahhh!“, drang Mokonas Kreischen an ihre Ohren. „Vorsicht, Shaolan! Vorsicht! Das ist heiß!!“

„Was stellen die schon wieder an??“ Kurogane stand auf und stapfte zur Tür. Als er sie öffnete, kam ihm eine dickte, graue Rauchschwade entgegen. Der Qualm zog durch das geöffnete Fenster ab und machte den Blick frei auf einen zerknirschten Jungen, ein geschmolzenes Etwas in der Spüle und einen aufgeregt zappelnden Klops, der den Stecker der Mikrowelle gezogen hatte.

„Was ist los? Was ist passiert?“, rief Fye besorgt hinter ihm.

„Dieses Modell der Mikrowelle ist ein anderes als in der Wohnung, die wir hier zuvor gehabt haben“, erklärte Shaolan bedröppelt. „Ich glaube, ich habe die falsche Einstellung gewählt.“

„Es hat zzzzz, pfffff, brrrrzzz und dann 'puff' gemacht!“, ergänzte Mokona und gestikulierte wild dazu.

Kurogane beäugte die beiden (vom Schreck abgesehen schienen sie in Ordnung zu sein) und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Das Zeug, das ich gekauft habe, lässt sich doch bestimmt auch anders zubereiten, oder?“

„Ja, ich glaube schon. Da sind Symbole auf der Packung, die nach einem Herd und einer Pfanne aussehen.“

„Dann versuchen wir das.“

„Moment, Moment!“

Kurogane drehte sich in das Schlafzimmer zurück und traute seinen Augen nicht. Dieser wahnsinnige Wirrkopf kroch auf allen Vieren die Matratze entlang.

„Was wolltet ihr denn machen?“, fragte Fye, der nun erschöpft auf dem unteren Bettrand hockte.

„Das hier!“ Mokona schnappte sich eine der noch ungeöffneten Packungen und hüpfte damit in den Schoß des Blonden. „Ich bin sooo froh, dass du wieder gesund bist!“

„Ich auch“, erwiderte Fye, streichelte das Wollknäuel und nahm ihm die Packung ab, auf der ein Bild des Inhalts prangte. Blankes Entsetzen bildete sich auf seiner Miene. „Das wollt ihr essen?? Das sieht aus wie ein gepresster Matschklumpen!“

„Es schmeckt auch so“, entgegnete Kurogane gefasst, „aber beim ersten Besuch hier hab ich aufgeschnappt, dass es nährstoffreich ist und das Zeug gibt tatsächlich Kraft. Der Bengel, der Klops und ich haben es damals ständig gegessen.“

Dem Magier entglitten endgültig die Gesichtszüge. „Ihr habt DAS gegessen??“

„Wir mussten irgendwas essen. Die Prinzessin allerdings hat irgendwelche Energieriegel geknibbelt.“

Gänzlich erschüttert schüttelte Fye den Kopf. Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen, denn er war schließlich schuld daran. Er hatte sich nicht mehr um das Essen für die Gruppe gekümmert. Er hatte keine Nahrung gebraucht … keine feste zumindest. „Das esst ihr also, wenn ich nicht für euch koche? Das geht nicht. Das … mir fehlen die Worte.“

„Man kann das auch als Zutat verwenden und zum Beispiel zu Suppen hinzugeben“, wandte Shaolan zaghaft ein, in der Hoffnung, die Lage zu retten.

„Ja?“, hakte der Blondschopf skeptisch nach. „Na ja, vielleicht …. Gibt es hier Gemüse? Ich werde euch nicht diesen Matsch pur essen lassen.“

„DU wirst dich wieder hinlegen.“ Kurogane schnippte gegen seine Stirn. „Dann machen der Kleine und ich eben etwas Akzeptables daraus. Du musst schließlich auch was essen.“

„Mama braucht wieder Kraft!“, flötete Mokona fröhlich. „Dann kann Mama wieder für uns kochen und das macht Mokona sehr froh, denn Mamas Essen ist das Beste!“ Sie kuschelte sich an Fye an, der sich sichtlich sowohl über die Geste als auch über die Worte freute.

„Mokona“, raunte Shaolan ihr zu, „wir hatten doch darüber gesprochen. Du sollst ihn nicht immer so nennen.“

„Huh?“, machten Fye und Mokona gleichzeitig und der Junge wurde spürbar verlegen.

„Ich meine … wegen … vielleicht … vielleicht ist dir das nicht Recht, Fye-san … ich meine …“

„Ah~“, machten beide wieder unisono.

„Shaolan-kun“, sagte Fye freudig, „ich habe schon länger darüber nachgedacht und ich kann mir gut vorstellen, dass Kuro-sama das ähnlich sieht. Mir würde es nichts ausmachen, wenn du die Höflichkeitsanrede weglässt. Es würde mich sogar sehr freuen. Nenn uns einfach so, wie du willst.“

Perplex schaute Shaolan daraufhin zu ihm, dann zu Kurogane, der achselzuckend seine Zustimmung gab.

„Ausnahmsweise hat der Spinner Recht. Fühl dich aber zu nichts gezwungen.“

„Mama und Papa sind soooo lieb!! Komm, Shaolan, sag es mit mir: Mama und Papa sind soooo lieb! Mama und Papa si-““

„FÜHL DICH VOR ALLEM NICHT DAZU GEZWUNGEN!“ Der Ninja schrie dem kleinen Wesen direkt ins Gesicht und es grinste nur genüsslich.

Shaolan begann zu lachen. Er wusste selber nicht so genau, warum er lachte, doch es kam über ihn und ließ sich nicht aufhalten. Die beiden Erwachsenen sahen ihn verwundert an und er konnte immer noch nicht aufhören. Es fühlte sich einfach nur gut an.

„Ich habe euch lieb“, sagte er zu ihrem Erstaunen letztlich. „Ich habe euch sehr lieb, Fye und Kurogane.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Erkennt man vielleicht schon langsam, worauf ich mit allem hinauswill?
Da beim ersten Besuch in Infinity sowohl Kurogane als auch Fye sichtlich leiden, wollte ich ihnen (ähnlich wie bei meinem Tokyo-Kapitel) eine etwas versöhnlichere Erfahrung dort geben. Und auch Shaolan brauchte dringend mal etwas mehr Nähe, deswegen fallen die Höflichkeitsanreden weg. Komplett anzeigen

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